Batya Gur
Denn die Seele ist in deiner Hand

Ein Zufallsfund auf dem Dachboden eines verlassenen Hauses in den südlichen Bezirken Jerusalems: da liegt eine junge Frau, schön, mit zerschmettertem Gesicht und tot. Gerade erst in der vergangenen Nacht ermordet. Es dauert einige Tage, bis die Angehörigen sie als vermisst melden. Aber auch dann schwimmt die Polizei noch in Rätseln: Zorah war leutselig, engagiert, ledig, ungebunden und hatte einen guten Beruf. Wer sollte ihr etwas anhaben wollen? Aber einen Spleen hatte sie, und schwanger war sie obendrein...

Der Form nach ist der Roman ein Krimi. Der wahre Wert des Werkes liegt aber in den präzise gezeichneten Personen und ihren Gefühlen. Dazwischen flicht Batya Gur viele Lebensweisheiten ein.

Für Krimi-Fans gibt es genug Rätsel. Gleich zu Beginn führt sie uns auf gleich vier verschiedene Fährten, die uns nicht loslassen:

Freilich, bei diesem Roman reicht der Spannungsbogen nicht bis zum letzten Kapitel: Schon sechs Kapitel vor Schluss weiß der Leser im Prinzip, welche Fährte die richtige ist und wie der Mörder überführt werden wird. Bei den früheren Ochajon-Krimis dagegen ist bis zum Schluss Spannung vorhanden bezüglich des Täters, Tathergangs oder Motivs.

Ein Ochajon-Roman wäre keiner, wenn Inspektor Michael Ochajon nicht zwischen seinem Beruf und einer Frau hin- und hergerissen würde. Dieses Buch ist besonders packend für Leute, die die One-Night-Stands der Jugend hinter sich gelassen haben oder lassen möchten und endlich in der Liebe "ankommen" möchten. (Wer sich mehr für romantische oder amouröse Abenteuer interessiert, sollte lieber die vier ersten Ochajon-Romane lesen: da war Michael noch etwas jünger.)

Wie immer steht Michael Ochajon in der Mitte seiner Mitarbeiter, und wird diesmal von der Gruppendynamik seiner Untergebenen etwas überfahren... Ein Lehrstück für Chefs und Manager also.

Durch Batya Gurs Romane wird man auch zum Israel-Kenner. Sie bindet so viele Alltags-Details aus Israel und aus der jüdischen Tradition mit ein. Das fängt an mit der Enge des ganzen Landes - man kann ohne weiteres in Jerusalem wohnen und "mal geschwind auf einen Sprung" nach Tel-Aviv oder Netanya fahren. Es geht weiter mit der Angst vor Anschlägen, die seit der von Arafat angezettelten "zweiten Intifada", insbesondere in Jerusalem, das Leben zur Qual macht. Sie beleuchtet die unwürdige Situation der arabischen Arbeiter in Israel mit Wohnsitz in den Autonomie-Gebieten. Mal geschwind kommt die wunderschöne Melodie des "Dayenu" von Pessach vor. Und schließlich sieht man auch die Kinder die Laubhütte zu Sukkot ausschmücken.

In diesem Roman spielt insbesondere der Gegensatz zwischen europäischen/ russischen und orientalischen Juden eine Rolle. Das ist ein Thema, über das man als Europäer kaum Bescheid weiß und auch kaum verstehen kann. Deswegen würde ich dieses Buch eher für fortgeschrittene Israel-Kenner empfehlen: für den/die, die die unterschiedliche Herkunft von Falafel und "gefilte Fisch" schon kennen. (Die früheren Ochajon-Romane sind in dieser Hinsicht einfacher zu verstehen.)

Das Buch ist gespickt mit Lebensweisheiten, die teilweise philosophisch interpretierbar sind. Wenn zum Beispiel postuliert wird, dass Gewalt oft eine Folge von Angst ist. (Wogegen ich argumentieren würde, dass Gewalt oft ein Ausdruck von Hass ist, und Hass entsteht als Gegenreaktion auf Verachtung.) Aber auch zu den anderen zentralen Themen des Lebens - Liebe, Geburt und Tod - hat Batya Gur viel zu sagen.


Buchbesprechungen
Bruno Haible <bruno-antispam@antispam.haible.de>

Geschrieben: 5. April 2005.
Letzte Änderung: 27. April 2005.